Mein Vater ist mir abhanden gekommen. 1950 unterschrieb er noch mein Volksschulzeugnis, 1951 war es schon meine Mutter. Meine Eltern haben sich getrennt.
Neun Jahre sind mittlerweile vergangen, ich bin 17 und voller Lebenslust. Ich leite eine Jugend-Rot-Kreuz-Gruppe. Zusammen mit meinen Kollegen - Kolleginnen haben wir leider keine - kümmere ich mich um Behinderte bei Ausfahrten mit dem Rollstuhl oder anderen Aktivitäten. Gesund, wie ich bin, spende ich Blut und initiativ, wie ich bin, gebe ich im Rahmen dieser Gruppe eine Zeitschrift heraus. die „Stimme der Jugend“. Ich - der Klosterschüler, dem man so etwas nicht zutraut - besuche Filme, um darüber Kritiken zu schreiben. Darüber hinaus strenge ich mich an, Buchstaben zu einem sinnvollen Kreuzworträtsel anzuordnen.
In diese Zeit fällt - bedingt durch meine vielen Gehirnerschütterungen - eine neuerliche Phase von Kopfschmerzen, die Monate lang dauern und in periodischen Abständen wiederkehren.
Die Routine des täglichen Schulbesuchs ist unterbrochen. Jetzt habe ich Zeit, mich Tatsachen zu widmen, die mein Leben negativ beeinflussen. Ich bin im Prozess der Abnabelung von meiner Mutter und beschließe nach längerem Nachdenken, Kontakt zu meinem Vater aufzunehmen. Den habe ich - trotz anfänglicher Versuche von seiner Seite - konsequent vermieden.
Ich raffe mich dazu auf, weil ich endlich mein Verhältnis zu ihm klären möchte, bin aber im Ungewissen, wie er, der Sechzigjährige, darüber denkt.
Ich weiß jedoch, wo er wohnt, und besuche ihn mit Absicht unangemeldet. Die Haustür ist offen und so muss ich nur an der Wohnungstür läuten. Seine Überraschung ist umso unmittelbarer und größer. Ich gebärde mich nicht sehr freundlich, als ich ihm die Hand reiche. Zu mehr langt meine angespannte Stimmung nicht.
Ich bemerke, dass mein Vater einen kleinen Schwips hat. Das beschäftigt mich und ist nicht förderlich, unser Wiedersehen nach so langer Zeit passend zu gestalten.
Ich sehe ihm die Verblüffung an, die mein unvorhergesehener Besuch bei ihm auslöst. Er lädt mich ein, mich auf den einzigen Stuhl in seiner Einzimmer-Wohnung zu setzen. Er platziert sich auf der Kante seines Bettes. Offensichtlich freut er sich sehr, dass ich aufgetaucht bin.
Ich erzähle von Ereignissen, die mir in den vergangenen Jahren seit seinem Abschied von uns widerfahren sind. Ich rede über meine Kopfschmerzen, die derzeit mein Leben bestimmen. Ich erzähle ihm, dass ich im Internat der Serviten, diesem katholischen Marien-Orden, bin und das Gymnasium besuche. Ich rede von der Zeit, als ich in Ehrwald die Hauptschule und in Volders das klösterliche Privatgymnasium besucht habe. Ich rede von den vielen Aktivitäten, die ich derzeit entwickle, und davon, dass mir mein derzeitiges umtriebiges Leben - abgesehen von den aktuellen Kopfschmerzen - sehr gefällt.
Interessiert hört er zu und beginnt, auch von sich zu erzählen. Er spricht nicht von den Gründen, weswegen er meine Mutter verlassen hat, er spricht davon, dass er aufgrund seines amputierten Beines seither in Frühpension ist und sich allein durchs Leben schlagen muss. Aber es taucht Leuchten in seinen Augen auf, als er mir anvertraut, er hätte eine Frau kennengelernt und plane, sie auch bald zu heiraten.
Ich muss mich mit dieser Ankündigung erst vertraut machen. Das ist ja der endgültige Abschied aus unserer gemeinsamen Familie. Aber ist es nicht besser so? Ich beginne, mich mit ihm zu freuen, dass er jetzt seiner Einsamkeit entkommt, und hoffe, dass diese Frau ihn auch beim Alkoholkonsum etwas einbremsen kann.
Wir vereinbaren, dass wir uns bald wieder treffen wollen. Ich habe meinen Vater wieder gefunden.
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